Gedenkkonzeption
"Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter."
Marcel Proust, 1871–1922, französischer Feuilletonist und Romanautor
"Erinnern" ist ein menschliches Grundbedürfnis, welches uns die Möglichkeit gibt, uns auf der Basis eigener und fremder Erfahrungen in der Umwelt zu orientieren, zu lernen und so unsere eigene Identität zu entwickeln. "Gedenken" wird dabei als eine besondere oder herausgehobene Form des "Erinnerns" angesehen: Im Vergleich zu "Erinnern" zeichnet sich "Gedenken" auf der einen Seite durch eine stärkere Formalisierung aus, regt aber auch der anderen Seite die Gesellschaft auch zur stärkeren kollektiven Vergangenheitsreflexion an. Somit schlägt "Gedenken" eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Die gesellschaftliche Erinnerung an die Jahre des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland 1933–1945, vor allem aber an die Opfer dieser, steht im Fokus der gedenkpolitischen Kultur Deutschlands und ist somit fester Bestandteil des öffentlichen Umgangs mit Geschichte. Dabei ist der Leitgedanke im Sinne eines "Nie wieder" elementar für das gegenwärtige politische System und für dessen Entwicklung: Aus der Vergangenheitsbewältigung sollen moralische Maßstäbe und Richtlinien für die Gegenwart sowie für die Zukunft abgeleitet werden.
Darüber hinaus wird in der Gedenkkonzeption des Landkreises Reutlingen auch denjenigen Opfern eingeräumt, die unter den Folgen des Krieges zu leiden hatten und Menschen, die Gewalt und Unrecht erfahren mussten. Auch diese sollen gesellschaftliches Gedenken erfahren.
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 Millionen europäische Jüdinnen und Juden sowie Menschen mit Behinderungen - sowohl physischer als auch psychischer Natur - erfasst, verfolgt, vertrieben und ermordet. Des Weiteren zählten Homosexuelle, Sinti und Roma als auch politische und religiöse Gegner des nationalsozialistischen Regimes zu den Opfern.
Auch im Landkreis Reutlingen zeigen noch viele Orte von der Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Die Gedenkstätte Grafeneck, das jüdischen Museum in Buttenhausen, der Gedenkort der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, der Truppenübungsplatz in Münsingen sowie Gruorn als Synonym im Landkreis für Vertreibung und verlorene Heimat sind die bekanntesten Beispiele. Heute sind sie einerseits Gedenkstätten, andererseits Ort der Mahnung an die nachfolgenden Generationen. Diese Orte dienen als sichtbare Zeichen der Erinnerung, als Gedenk- und Bildungsorte und bilden daher einen grundlegenden Bestandteil der Gedenkkultur im Landkreis.
Dabei wird an dieser Stelle betont, dass der Landkreis Reutlingen die Gedenkarbeit als gemeinsamen Auftrag ansieht und die Gedenkstätten bei ihren gedenkkulturellen Aktivitäten unterstützt.
Der Landkreis Reutlingen ist sich seiner kommunalen Mitverantwortung bewusst und stellt aus diesem Grund Themen in den Vordergrund, die ihn selbst als Institution, das Kreisgebiet im Allgemeinen oder einzelne Aufgaben tangieren. Dabei misst er sowohl den kommunalen (Gedenk-)Orten als auch den historischen Ereignissen in der Region besondere Bedeutung zu. Ziel des Landkreises ist die Wirkung der geleisteten Gedenkarbeit in den Gedenkstätten und Gedenkinitiativen zum Nationalsozialismus zu bündeln und zu verstärken. Aus diesem Grund stützt sich die Gedenkkonzeption des Landkreises Reutlingen auf drei Säulen: Gedenken, Lernen und Forschen/ Dokumentieren.
Gedenken
Gedenkorte sollen die Erinnerung an Opfer, die unter kriegerischen Auseinandersetzungen zu leiden hatten und an Menschen, die Unrecht und Gewalt erfahren mussten, wachhalten. Dabei sollen sich vor allem Gedenkstätten, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, für neue Formen der Erinnerung offen zeigen, um so besonders den jungen Menschen gerecht zu werden.
Lernen
Jeder Gedenkort ist gleichzeitig eine historischen und politische Bildungsstätte: So werden beispielsweise an einem Gedenkort zu NS-Geschichte die besondere Historie des Ortes sowie ihre Einbindung in die Geschichte des Nationalsozialismus erfahrbar. Neben dieser Vermittlung von historischen Fakten wird jedoch auch ein Gegenwartsbezug erwartet. Das heißt, dass trotz der negativ behafteten Geschichte der Gedenkorte, diese die Bedeutung von Demokratie, Menschenrechte und Menschenwürde akzentuieren und demokratisches Bewusstsein fördern können. Die Prämisse gemäß eines "Nie wieder" ist dabei grundlegend.
Der Landkreis Reutlingen ist mitverantwortlich für die Bewahrung des historischen Wissens und für dessen Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit. Dem Kreisarchiv Reutlingen kommt dabei die Aufgabe zu, die Forschung gedenkkultureller Themen zu unterstützen, Material dazu zu sammeln und zu ergänzen sowie dieses auch nach archivischen Kriterien zu erschließen.
Des Weiteren müssen die im Kreisarchiv, den Stadt- und Gemeindearchiven und in den relevanten Museen vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen einbezogen und gestärkt werden. Ihre Publikationen, Ausstellungen, Veröffentlichungen, Veranstaltungen und speziellen Bildungsangebote sind ein spezifischer und unentbehrlicher Beitrag zur Geschichtsforschung und zur historisch-politischen Bildungsarbeit für die Bürger.
In den vergangenen Jahren haben sich verschiedene Veränderungstendenzen entwickelt, die die Gedenkarbeit beeinflussen: Neben der zunehmenden kulturellen, religiösen und ethnischen Vielfalt der Zielgruppen, muss auch das Aussterben der Zeitzeugen-Generation und die damit verbundene gestiegene Erwartung an die Gedenkstätten in Bezug auf die zu leistende Bildungsarbeit berücksichtigt werden. Der Landkreis Reutlingen stellt sich auf diesen erkennbaren Wandel ein, nimmt diesen wahr und baut durch gezielte Förderung die Gedenkkultur in seinen Gemeinden weiter aus. Dabei beteiligt sich der Landkreis Reutlingen entweder durch Eigeninitiative oder auf Antrag an der Gedenkarbeit
- 1. durch das Mentoring und Qualifizieren von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Jugendguides.
- 2. durch das Kreisarchiv als Gedächtnis des Landkreises.
- 3. durch die institutionelle Förderung von Gedenkstätten und Gedenkinitiativen.
- 4. durch die finanzielle Unterstützung von gedenkkulturellen Aktivitäten.
- 5. durch die Etablierung des Bildungsnetzwerkes "Akademie für Erinnerungskultur".