150 Jahre Eisenbahn im Landkreis Reutlingen 1859 - 2009

Die Anfänge

Als sich um 1830 die Kunde von dem neuen Verkehrsmittel „Eisenbahn“ in Europa ausbreitete, ergriff die württembergische Regierung rasch die Chance und sprang auf diesen Zug auf. Während viele deutsche Staaten den Eisenbahnbau Privatunternehmen überließen, erklärte die württembergische Regierung 1836 das Eisenbahnwesen zu einer Angelegenheit des Staates.
 
Der Vorteil dieser Strategie war, dass das Eisenbahnnetz systematisch aufgebaut werden konnte. Der Nachteil war eine gewisse Schwerfälligkeit bei der Ausführung von Plänen. Studien über mögliche Streckenführungen
und Gutachten wurden in Auftrag gegeben bis der Landtag schließlich im Jahr 1843 das „Gesetz betreffend den Bau von Eisenbahnen“ verabschiedete. Es legte die beiden Hauptlinien durch das Königreich fest: Die Linie Heilbronn–Stuttgart–Ulm–Friedrichshafen und die Linie Stuttgart–badische Grenze bei Bretten bzw. Bruchsal. Innerhalb von zehn Jahren, 1844 bis 1854, wurden diese Strecken gebaut.
 
Dann ging es darum, das Liniennetz weiter auszubauen, wobei die Eisenbahndirektion das ganze Land in den Blick nahm. Es sollten nicht nur wichtige Städte miteinander verbunden werden, sondern auch die Bevölkerung im Hinterland sollte an der Eisenbahn und damit am Fortschritt Teil haben.

Die Entwicklung des Eisenbahnwesens im Königreich Württemberg 1844 bis 1895

In die erste Ausbauphase der zweiten Bauperiode fiel die Strecke Plochingen–Reutlingen–Tübingen und erst in der dritten Bauperiode (1887-1913) waren die Nebenbahnen an der Reihe wie die Strecke Reutlingen–Münsingen. Die Fortsetzung nach Schelklingen zeigt die Karte noch nicht, denn diese Strecke war erst 1901 fertig.
 
Die Ermstalbahn war zwar auch eine Nebenstrecke, aber sie gehörte zu den „Bahnen fremder Verwaltungen“, weil sie nicht vom Staat, sondern von der privaten „Ermsthalbahngesellschaft“, erbaut worden war. Deshalb ist sie nur mit einer dünnen Linie eingezeichnet.

Eisenbahnkarte aus dem Jahr 1895

Reutlingen mit seinen Sehenswürdigkeiten 1863

Bis 1859 hatte Reutlingen, eine der wirtschaftlich stärksten Städte des Landes, auf den Bahnanschluss warten müssen. Nun aber waren die Bürger stolz auf den Anschluss an die weite Welt und sofort erschien der Bahnhof als eine der örtlichen Sehenswürdigkeiten auf Stadtansichten und auf den im 19. Jahrhundert so beliebten Sammelbildern, Vorgänger heutiger Ansichtskarten. Diese Blätter dienten der Fremdenverkehrswerbung und da konnte ein Hinweis auf den neuen Bahnhof – in der oberen Bildleiste – nicht schaden.

Reutlinger Ansichtskarte mit Sehenswürdigkeiten, 1863

Fahrplan des Jahres 1859

Zur „Begrüßung des ersten Bahnzugs“ schrieb der Reutlinger Chronist Carl Bames ein mehrstrophiges
Gedicht, in dem er auch den Fahrplan kommentiert:
 
"Vier Züge kommen täglich her, vier gehen ab,
das gibt Verkehr und gibt uns viele Gäste.
Die lassen hier ihr gutes Geld, und Zufuhr
kommt aus aller Welt, von jedem Land das Beste."

Die Nebenbahnen

Beim Bahnbau hatte die Regierung von Anfang an stets das ganze Land im Blick. Zunächst war vorgesehen, als Zubringer zu den Hauptbahnen Straßen zu bauen, damit auch abgelegene Regionen von der Bahn profitieren konnten. Seit dem Ende der 60er Jahre forderten aber zahlreiche Kommunen statt der Straßen einen Bahnanschluss – „Nebenbahn“ war das Reizwort. Eisenbahndirektion, Regierung und Landtag waren sich darin einig, dass Nebenbahnen nie rentabel sein würden, sie gaben aber schließlich dem Drängen von verschiedenen Seiten nach. Die Fäden wollten sie aber auch hier in der Hand behalten und deshalb übernahm der Staat den Bau und Betrieb solcher Nebenbahnen, die als „bauwürdig“ eingestuft  wurden.
 
Seit 1887 wurden Gesetze erlassen, die den Bau von Lokal- und Nebenbahnen regelten. Die Reihenfolge richtete sich nach der Prognose für die jeweilige Strecke. Im Juni 1889 wurde unter anderem die Strecke von Reutlingen nach Honau gesetzlich festgeschrieben, im Mai 1890 die Fortsetzung nach Münsingen.

Die Ermstalbahn

Diesem langwierigen Verfahren kamen Kommunalpolitiker und Unternehmer in Urach zuvor. Nach erfolglosen Bemühungen bei der Eisenbahndirektion bildeten sie bereits 1871 ein Eisenbahn-Komitee, erhielten 1872 die Bau-Konzession und gründeten die „Ermsthalbahngesellschaft“, welche die Strecke ohne jegliche finanzielle Unterstützung durch den Staat erbauen ließ. Nach gut einem Jahr, am 27. Dezember 1873, fuhr der erste Zug in Urach ein. Die erste Nebenbahn im heutigen Landkreis Reutlingen war also eine Privatbahn, eine der wenigen Privatbahnen in Württemberg überhaupt. Im April 1904 wurde sie allerdings gegen eine Entschädigung von der  württembergischen Staatseisenbahnverwaltung übernommen.

Hinweis auf die Eröffnungsfeier der Ermstalbahn im Extrablatt des Uracher Amtsblattes

Der Reutlinger Chronist Carl Bames gratulierte den Urachern mit einem vielstrophigen Gedicht zu ihrer Bahn: 
 
"Gewonnen ist der schwere Kampf!
Jetzt geht die Fahrt im Flug mit Dampf
durchs Thal in langen Zügen.
So springt von Güterstein kein Hengst,
kein Vollblutpferd, und wär’s das Jüngst’.
Es müßte unterliegen."

Der Kampf um die Albüberquerung

Als in den 1860er Jahren die Eisenbahn von Ulm nach Sigmaringen gebaut wurde, verlangte Münsingen  zunächst eine Staatsstraße durch das Schmiechtal zur Bahnstation Schelklingen. Spätestens 1865 allerdings wollte Münsingen mehr: Eine Bahnstation in Schmiechen und zwar in der Hoffnung, dass irgendwann einmal
„eine Eisenbahnlinie von Mezingen über Urach und die Alb“ nach Schmiechen gebaut werde.
1868 bildeten sich in Urach und Münsingen „Eisenbahnkomitees“, welche die Regierung mit entsprechenden Eingaben regelrecht bombardierten.
 
Das erregte die Aufmerksamkeit der Stadt Reutlingen. Dort entstand ebenfalls ein Eisenbahnkomitee, das die Variante Reutlingen-Honau-Münsingen als einzig richtigen Weg über die Alb propagierte. Auch die Reutlinger sandten Petition um Petition nach Stuttgart. Der Kampf um die Streckenführung zog sich über 25 Jahre hin.
  
Diese Eisenbahnkarte von 1877 zeigt die projektierte Verbindung von Urach nach Münsingen bis Blaubeuren, denn nach dem Bau der Ermstalbahn 1873 hatte die Urach-Münsingen-Fraktion zeitweise die besseren Chancen.

Gewichtige Gründe sprachen aber für die Echazbahn:
  • die größere Bevölkerungsdichte im Echaztal und damit verbunden "eine höhere Verkehrsfrequenz"
  • die Möglichkeit, in Kleinengstingen an die Hohenzollernbahn anzuknüpfen
  • der finanzielle Aspekt. Die Amtskörperschaft Reutlingen war bereit, gut 25 % der Kosten zu übernehmen - das konnten die Amtskörperschaften Urach und Münsingen nicht bieten

Die Echazbahn - die erste staatliche Nebenbahn in Württemberg

1891 bis 1892 wurde die Strecke Reutlingen–Honau erbaut und am 1. Juni 1892 eingeweiht.
Am 30. September 1893 fuhr der erste Zug in Münsingen ein.

Die technisch interessante Zahnradstrecke war eine Sparmaßnahme, denn eine Adhäsionsbahn hätte
ungeheure Kosten verursacht.
 
Die Steilstrecke war aber nur mit speziellen Lokomotiven mit sehr geringer Geschwindigkeit und kleiner Last zu befahren und damit hatte die Verbindung Reutlingen –Münsingen–Schelklingen (1901) von Anfang an keine Entwicklungsperspektive, sondern war auf die rein lokale Bedeutung festgelegt.

Eisenbahneuphorie

Die Eisenbahn galt als Verkörperung des Fortschritts schlechthin. Allgemein versprach man sich einen Aufschwung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze, denn sie machte Arbeitskräfte mobiler und brachte Waren schneller an den Bestimmungsort. So wurden von Reutlingen aus noch zwei Stichbahnen gebaut – 1899 eine Lokalbahn nach Eningen und eine nach Gönningen.

Gönninger Bähnle am Bahnhof, 1902
Das Gönninger Bähnle umringt von Menschenmassen.

Das Büschelesbähnle

Die schmalspurige Lokalbahn mit Dampflok, das „Büschelesbähnle“, verkehrte seit November 1899 zwischen Eningen und dem Listplatz vor dem Reutlinger Bahnhof. Da sie unrentabel war, übernahm sie 1903 die Gemeinde und 1911 erwarb die Württembergische Eisenbahngesellschaft das technisch veraltete
Unternehmen. Sie stellte die Bahn 1912 auf den elektrischen Straßenbahnbetrieb um.  
 
Das „Büschelesbähnle“, war spielte eine große Rolle für den Arbeiter-Pendlerverkehr zwischen Eningen
und Reutlingen. In der Mittagszeit benutzten viele Arbeiterfrauen die Bahn, um ihren Männern das
Essen in die Fabriken bringen.

Büschelesbähnle in Eningen bei der Eröffnung, 1899


Freiherr Hermann von Mittnacht
Freiherr Hermann von Mittnacht war auch für das Eisenbahnwesen zuständig. 
Als Ehrengast wurde er bei sämtlichen Bahneröffnungsfeierlichkeiten an allen
Bahnhöfen empfangen.