Das Schicksal der jüdischen Familie Maier aus Reutlingen

Ein Podcast der Reutlinger Jugendguides Franziska Gaibler und Manuel Zabka mit Archivgut aus dem Stadtarchiv Reutlingen, 2020.

Die glücklichen Anfangsjahre

Im November 1920 heiratete Babette genannt Bea Oppenheimer in ihrem Geburtsort Gemmingen den 13 Jahre älteren Adolf Maier, der ein Immobilien- und Hypothekengeschäft besaß und zog mit ihm nach Reutlingen. Zwei Jahre später im Dezember kam das erste Kind Hannelore auf die Welt, 1923 erfolgte der Umzug in die Kaiserstraße 117. Im Juni 1929 wurde das zweite Kind Gerhard geboren. Die Jahre bis zur Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre waren geprägt durch Wohlstand - Hannelore und ihr Bruder Gerhard konnten sich an viele Ausflüge, Kur-Aufenthalte in Baden-Baden sowie an ein Auto erinnern - und intensiven freundschaftlichen Beziehungen zu verschiedenen jüdischen Familien in Reutlingen, wie etwa zu Abosch und Elsaesser. Auch wenn Adolf Maier nach Aussagen seiner Tochter Atheist war, war ihre Mutter gläubige Jüdin und demnach nahmen die jüdischen Traditionen und Feiertage eine wichtige Rolle im Leben der Kinder ein - so wurde beispielsweise das Sabbat-Ritual am Freitagabend gepflegt. Fotos, welche die Kinder unter dem Weihnachtsbaum oder mit einem Osterhasen zeigen, lassen darauf schließen, dass Bea und Adolf Maier ihre Kinder, unabhängig von ihrem jüdischen Glauben, an den Bräuchen und Riten des christlichen Umfeld teilhaben lassen wollten und eine Integration in die deutsche Gesellschaft anstrebten.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933

Mit dem Jahr des Machtantritts der Nationalsozialisten sank der Ertrag des Immobilien- und Hypothekengeschäfts drastisch: Adolf Maier konnte nun noch ein Fünftel der Summe vom Vorjahr erwirtschaften. Nach dem Boykott am 1. April 1933, als auch vor Maiers Büro in der Gartenstraße SA- und SS-Posten standen, lief sein Immobiliengeschäft nicht mehr und er musste gedemütigt 1936 Konkurs melden. Der gesundheitliche Zustand Adolf Maiers verschlechterte sich während dieser Zeit enorm, er litt unter Diabetes und einer Lugenentzündung. Am 18. Februar 1937 nahm er sich letztendlich mit einer Überdosis des Schlafmittels Veronal das Leben - drei Wochen nachdem sich seine Tochter Hannelore mit einem Stipendium nach England retten konnte.

Grabstein des Adolf Maiers, Jüdischer Friedhof Wankheim
Grabstein des Adolf Maiers, Jüdischer Friedhof Wankheim

Die Flucht nach England

Hannelore Maier besuchte von 1928 bis 1932 die Gartentorschule in Reutlingen, später wechselte sie dann auf die Mädchenrealschule, das heutige Isolde-Kurz-Gymnasium. Bei ihrem Besuch in Reutlingen 2002 erinnerte sie sich daran, dass sie auf ihrem Schulweg immer Angst vor Jungen hatte, die sie mit Steinen bewarfen, um sie einzuschüchtern. 
Dank eines Hinweises ihres Religionslehrers Wochenmark bekam Hannelore im Januar 1937 ein Stipendium für ein Internat in Südengland, zwischen London und Bristol, und konnte so auswandern. Gerhard konnte im September 1938 seiner Schwester nach England folgen.

Hoffen und Bangen: Die Deportation Bea Maiers

Das Lager Gurs

Nachdem Bea Maier sowohl ihren Ehemann als auch in ihre Kinder nach England verloren hatte, zog sie im September 1938, nach der Abreise ihrer Kinder, in ihren Heimatort Gemmingen. Dort wurde sie bereits im Oktober 1940 in einer Nacht-und Nebel-Aktion mit ihrem Vater, ihrer Schwester und weiteren Juden aus Baden nach Gurs, einem Lager in Südfrankreich, deportiert - sie war damit die einzige Jüdin aus Reutlingen, die im Rahmen der Wagner-Bürckel-Aktion deportiert wurde.
Dabei war die Auswanderung zu diesem Zeitpunkt sehr nahe gewesen. Am 28. November 1938 schrieb sie Hannelore, dass sie erstmals in England unterkommen wollte,  bis zur Weiterreise nach die USA . Ihr größter Wunsch war es mit ihrer Familie und den Verwandten wieder vereint zu sein. Stattdessen fand die - erzwungene - Reise nach Südfrankreich statt. Das Lager in Gurs war auf die vielen Ausgewiesenen nicht vorbereitet - keiner hatte die französische Regierung von dieser Aktion unterrichtet. Es herrschten katastrophale hygienische Zustände, in den Baracken war es zugig ohne ausreichend Kleidung und es gab zu wenig Nahrung - viele starben aufgrund dieser Bedingungen in dem Lager. 

Von Drancy nach Auschwitz

Im August 1941 erfolgte ihre Verlegung nach Marseille ins Hotel "Bompard". Nach weiteren Stationen in Frankreich wurde sie zusammen mit ihrer Schwester im August 1942 in das Lager Les Milles bei Aix-en-Provence verlegt, kurze Zeit später dann in das Durchgangslager Drancy bei Paris. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand bei Bea Maier immer noch die Hoffnung auf eine Flucht nach England und einem Wiedersehen mit ihren Kindern. 
Über Drancy wurde sie nach Ausschwitz deportiert und "auf 31. August 1942" für tot erklärt. Ihre Kinder erhielten erst im April 1943 die Nachricht vom Tod ihrer Mutter.

Die Zeit in England

Vor allem für Gerhard begann seine Leidenszeit erst in England - er hatte mit großen Anfeindungen zu kämpfen. Beiden Kinder fehlte in der Ferne die Geborgenheit der Eltern. So wusste Gerhard oft nicht, wo er die Ferien oder Feiertage verbringen sollten. Hannelore fühlte sich in England nie heimisch - so sagte sie bei ihrem Besuch in Reutlingen 2002: "Ich bin nie mehr und nirgends zu Hause - ich habe kein Zuhause mehr".

Gerhard Maier starb 2003, Hannelore Maier 2015 in London.

Zur Erinnerung an Adolf, Babette genannt Bea, Hannelore und Gerhard Maier wurden im April 2017 in der Kaiserstraße 117, wo die Familie wohnte, im Beisein der Enkelin Kate Maier vier Stolpersteine verlegt.

Literatur

  • Borth, Wilhelm, Bea Maier (1895-1942) zwischen Reutlingen und Auschwitz. Das Schicksal einer jüdischen Mitbürgerin und ihrer Familie im Zusammenhang der Zeitgeschichte, in: Reutlinger Geschichtsblätter, NF 49 (2010), hrsg. von Stadtarchiv Reutlingen/ Reutlinger Geschichtsverein e.V., S. 9-238.
  • Serger, Bernd/ Böttcher, Karin-Anne, Adolf Maier und Familie - Immobilien Maier, in: Es gab Juden in Reutlingen. Geschichte. Erinnerungen. Schicksale. Ein historisches Lesebuch, hrsg. von Stadtarchiv Reutlingen, Reutlingen 2005, S. 317-323.